Die Verschmelzung von Realität und Virtualität: Perspektiven des immersiven Lernens
Ob technologiegestütztes Lernen, multimediales Lernen, eLearning oder immersives Lernen: Ansätze, um Lernprozesse mit Technologien zu verbessern, gibt es inzwischen einige. Aktuell sind besonders die immersiven Lernumgebungen ein hochaktuelles Thema unter Pädagoginnen und Pädagogen, da hiermit reale Lern-Situationen nachgeahmt werden können. In diesem Beitrag geben wir einen ersten Einblick in das immersive Lernen.
Definition des immersiven Lernens
Nach der Definition des Marktforschungsunternehmens Gartner handelt es sich beim immersiven Lernen (oder immersive Learning) um eine Lernerfahrung in diversen Bildungssettings, in der reale Szenarien und Umgebungen mit Hilfe unterschiedlicher Technologien in einem virtuellen Raum simuliert werden. Dadurch soll die Anwenderin oder der Anwender neues Wissen erwerben und direkt umsetzen. Dabei besteht die Möglichkeit, mit anderen zu interagieren.
"Immersion" bezeichnet den Zustand, in dem die Anwendenden das Bewusstsein, sich in einer künstlichen Welt zu befinden, verlieren und sich mit allen seinen Sinnen auf das Erlebnis einlassen.
Immersives Lernen ist also eine speziell geschaffene Lernmethode, bei der die Teilnehmenden in eine virtuelle – künstliche - Welt eintauchen. Dadurch können Fehler gemacht werden, ohne dass es ein großes Risiko für die Schülerinnen und Schüler gibt. Das soll das Lernen durch praxisnahe Erfahrungen fördern.
Grundprinzipien des immersiven Lernens
Immersives Lernen sollte in der Bildung immer mit einem Ziel und didaktischer Aufbereitung eingesetzt werden. Um nicht einfach dem Hype zu folgen, sondern tatsächlich die Bildungsarbeit zu unterstützen, können deswegen bei der Planung von immersiven Lerneinheiten die Kriterien der Mediendidaktik herangezogen werden: Ausgehend von einem Bildungsproblem werden Lehr-Lernziele spezifiziert, die Zielgruppe und weitere Akteurinnen und Akteure analysiert, eine didaktische Methode ausgewählt und die Lernorganisation bestimmt.
Immersives Lernen kann dank der unterschiedlichen Visualisierungstechnologien in totaler oder partieller Immersion erfolgen (mehr dazu im nächsten Abschnitt). Vor dem Einsatz im Unterricht sollte der mögliche Nutzen der unterschiedlichen Technologien und Methoden geprüft werden. Fragen, die dabei helfen können, sind beispielsweise:
- Hilft eine räumliche Darstellung beim Veranschaulichen abstrakter Konzepte, Zusammenhänge oder Prozesse?
- (Wie) sollen konkrete Situationen sichtbar gemacht werden? Anhand von Fotos, Videos, Skizzen,…? Werden diese in der Immersion besser vermittelt?
- Sollen Fertigkeiten erlernt werden, deren Erprobung in der Realität heikel oder gefährlich sein könnte?
- Nutzt oder stört die Einblendung von Informationen den Lernprozess und Handlungsfluss der Schülerinnen und Schüler?
- Besteht die Gefahr, dass eine komplette Immersion als emotional „überwältigend“ bewertet werden kann?
- Wie soll die Interaktion mit anderen Menschen in der immersiven Lernumgebung gestaltet sein und durch welche Information wird die soziale Interaktion unterstützt?
Diese Auswahl an Fragen macht bereits deutlich, wie vielfältig die tatsächliche Ausgestaltung des immersiven Lernens im Unterricht sein kann. Lehrkräfte können die Lernerfahrung – und den Lernerfolg - mit einer durchdachten Ausgestaltung der technischen Möglichkeiten jedoch verbessern.
Technologien im immersiven Lernen
Immersives Lernen nutzt unterschiedliche Technologien, um den Effekt des „Eintauchens“ zu erzielen. Diese 3D-Lernwelten haben technologieübergreifend drei zentrale Merkmale, die sie von anderen Lernmedien unterscheiden:
- eine präsenzähnliche (räumlich, situiert, sozial) Erfahrung
- die Möglichkeit in der Immersion realitätsnah zu handeln und zu interagieren (und Konsequenzen daraus zu erfahren)
- eine beliebige, ziel- und situationsgerechte Gestaltbarkeit von Lernsituationen
Folgende Technologien machen es in der Schule möglich, eine vollständig virtuelle Umgebung zu erschaffen oder virtuelle Objekte zu entwerfen, die wie ihre physischen Gegenstücke reagieren.
Virtuelle Realität
Mit der virtuellen Realität (Virtual Reality oder VR) tauchen die Schülerinnen und Schüler in eine vollständig virtuelle Welt ein, in der sie sich bewegen und mit virtuellen Objekten und Figuren interagieren können. Mit der Anwendung von VR kann eine komplette Immersion (total immersion) erreicht werden. Diese 3D-Lernumgebung ist hoch interaktiv und reagiert realitätsnah auf die Handlungen der Lernenden. Um sich in einer solchen Welt zu bewegen, sind spezielle VR-Brillen erforderlich. Sie kommen bereits in unterschiedlichen Bildungsszenarien zum Einsatz und sind, einmal angeschafft, eine kostengünstige Möglichkeit für das Lernen in der Praxis. Ob eine Klassenfahrt nach Rom zu antiken Ausgrabungsstätten oder die Durchführung eines heiklen Chemie-Experimentes: VR in der Schule hat eine Vielzahl an Einsatzmöglichkeiten.
Erweiterte Realität (AR)
Bei der erweiterten Realität (Augmented Reality oder AR) werden virtuelle Objekte in der realen Umgebung platziert. Das wird mit einer künstlich geschaffenen zusätzlichen Ebene, die die reale Welt überlagert, möglich. Um diese Ebene zu sehen, werden ebenfalls spezielle Brillen oder mobile Geräte benötigt. Mit AR lassen sich zum Beispiel zusätzliche Anleitungen und Instruktionen für die Lernenden einblenden. Durch die Zugänglichkeit vieler AR Anwendungen über Smartphones ist sie gut für das mobile Lernen geeignet.
Mixed Reality
Bei der Mixed Reality (MR) verschmilzt die physische Welt mit digitalen Objekten. Mit diesen realitätsnahen, aber dennoch nicht realen Objekten, können die Lernenden in Echtzeit interagieren. Mixed Reality basiert auf der kombinierten Verwendung von VR- und AR-Elementen. MR ist ebenfalls nur über die Verwendung von spezieller Hardware möglich. Einige gamifizierte Lernanwendungen greifen auf diese Technologie zurück.
Video 360°
Die Video 360° Technologie verwendet sphärische Videos. Diese navigierbaren Videos ermöglichen es, die Schülerinnen und Schüler an Orte zu versetzen, an denen ein persönlicher Besuch zu gefährlich, zu teuer oder einfach unmöglich wäre. Viele dieser 360° Videos kann man auf YouTube finden, zum Beispiel auf dem VR-Kanal von Google. So lassen sich zum Beispiel lebhafte Märkte in Indien besuchen oder ein Spaziergang mit Elefanten machen und durch einfache Mausbewegungen rundherum erkunden. Mit 360° Videos lässt sich das Gefühl der totalen Immersion jedoch nicht erreichen, da die Nutzenden eher das Gefühl bekommen, auf eine realitätsnahe Welt zu blicken, anstatt in ihr zu interagieren. Dieser Zustand wird auch als „partial immersion“ bezeichnet.
Anwendungsbereiche von immersive Learning
In der Berufsausbildung und in der Schulung von Mitarbeitenden wird immersives Lernen zum Beispiel genutzt, um Arbeitsprozesse erlebbar zu machen und zu erlernen. Dadurch fällt es den Lernenden leichter, das erworbene Wissen auf die Praxis zu übertragen. Die Lücke zwischen Theorie und Praxis wird damit verkleinert. Besonders in risiko- und kostenintensiven Branchen kommen VR- und AR-Anwendungen seit einigen Jahren in der Aus- und Weiterbildung zum Einsatz. Medizinische und technische Trainingsszenarien können mit immersivem Lernen ohne große Gefahren geübt werden. Die Auszubildenden verspüren weniger Druck, wenn zum Beispiel durch einen Fehlgriff nur der Betriebsablauf im virtuellen Betrieb gestört wird und nicht der tatsächliche und trauen sich eher, etwas auszuprobieren und neue Lösungsansätze zu entwickeln.
Auch im schulischen Bereich können immersive Lernumgebungen einen Mehrwert in der Wissensvermittlung und -aneignung schaffen.
Immersives Lernen im Geschichts- und Kulturunterricht
Gut geeignete Einsatzgebiete von immersivem Lernen sind zum Beispiel der Geschichtsunterricht und die Kulturvermittlung. Durch die relativ leicht zu beschaffenden Cardboard- oder Mobile-VR-Brillen kann eine ganze Schulklasse zu den Pyramiden von Gizeh aufbrechen, Ausgrabungsstätten in Athen erkunden, einen Tag im Mittelalter erleben oder Kunstwerke aus der ganzen Welt aus der Nähe anschauen.
Immersives Lernen im Sprachunterricht
Ein beliebtes Einsatzgebiet von immersivem Lernen ist das Sprachenlernen. Mit der Sprachimmersion führen die Lernenden „echte“ Konversationen mit Muttersprachlerinnen und -sprachlern und bekommen im virtuellen Sprachtraining Feedback in Echtzeit. Besonders schüchtere Schülerinnen und Schüler oder Lernende mit besonderen Bedürfnissen können in einer virtuellen Lernumgebung Sicherheit bekommen und ihre Fähigkeiten üben.
Immersives Lernen in den MINT Fächern
Mit erlebbaren 3D-Modellen lässt sich der menschliche Körper mit seinen unterschiedlichen Schichten visualisieren. Auch ganze Landschaften wie der Meeresgrund oder der Regenwald können überzeugend echt dargestellt werden. Einige Untersuchungen zeigen bereits jetzt, welche Chancen immersive Lernumgebungen für das bessere Verständnis von geometrischen Figuren und naturwissenschaftlichen Phänomenen haben können.
Immersives Lernen in der beruflichen Weiterbildung
Immersives Lernen spielt auch in der beruflichen Weiterbildung eine wichtige Rolle. Mitarbeiter können in virtuellen Umgebungen neue Fähigkeiten erlernen oder bestehende verbessern. Dies ist besonders nützlich in Branchen, in denen praktische Erfahrung entscheidend ist, wie beispielsweise in der Luft- und Raumfahrt, im Bauwesen oder in der Automobilindustrie.
Lesen Sie hier: Game-Based-Learning in der betrieblichen Weiterbildung
Beispiel aus der Praxis
Wie VR Trainingseinheiten im Schulkontext genutzt werden können, zeigt ein Kooperationsprojekt zwischen einer Schule, lokalen Unternehmen und Universitäten. Hierbei standen drei Schwerpunktkompetenzen im Zentrum: die Projektmanagement-Methodik kennenzulernen, aktiv einzusetzen und für ihre Mitschülerinnen und -schüler didaktisch aufzubereiten. Damit sollten sie ebenfalls ihre Präsentationskompetenz schulen und sich mit der virtuellen Realität als Präsentationsmedium auseinandersetzen.
Die Schülerinnen und Schüler erprobten die Möglichkeiten digitaler Kooperation durch VR und konnten letztendlich von ihrer Schule in Saarbrücken aus in einem virtuellen Raum einen selbst entwickelten Workshop mit Schülerinnen und Schülern in Niedersachen und Baden-Württemberg durchführen.
Maschinenbau und VR-Training
Ein gutes Beispiel für den Einsatz von immersiven Technologien im Bildungsbereich ist die Integration von VR in die Ausbildung im Maschinenbau. Zum Beispiel Die Firma BBG, ein Maschinenbauer, nutzt VR, um ihre Maschinenkonzepte zu visualisieren und zu präsentieren.
Dabei werden CAD-Daten extrahiert und optimiert, um Maschinenmodelle in einer virtuellen Umgebung darzustellen. Lernende können Maschinen in einer sicheren und kontrollierten Umgebung erkunden und verstehen, ohne physischen Zugang zu den realen Maschinen zu benötigen.
Entdecken Sie die Möglichkeiten immersiven Lernens
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